Christian Rothmaler’s painting Get Cream in Neom looks like the outsized likeness of a hand. Casting no discernible shadow, the limb hovers at the center of the picture before a bright nonrepresentational background, a compositional template familiar to art historians from depictions of one of Christianity’s most mysterious relics: the Veil of Veronica. The peculiar sheen of the flesh tones may remind a beholder contemplating the hand of the otherworldly elegance of fourteenth-century frescoes in Italian churches—this hand, however, boasts seven fingers. The work’s title makes reference to the smart city Neom , a futuristic metropolis, running entirely on bioenergy and populated by a new and optimized subspecies of humanity, that is projected to rise in the desert of Saudi Arabia. Might the picture show the greeting of an emerging élite, the gesture with which its deity dispenses its blessing, the promulgation of a superior culture to come?

If the hand appears to float on a screen whose brightness setting is turned up too high, the effect is in part due to the luminous yellowish-white grid background. It is a nod to a technical imaging procedure that is emblematic of the objective and accurate recording, transmission, and production of reality. In the history of art, it has become a theme in its own right—see, for instance, Dürer’s Draftsman Drawing a Reclining Nude, which conveys the artist’s conviction that his work carried the authority of a scientific practice. Today’s users can rely on online tutorials to teach them all they need to know about 3D rendering software and the creation of animated characters and virtual spaces. Avatars can be assembled from individual perfectly shaped body parts; failed species filter back through the virtual biotopes of pluridimensional gaming universes into our realities. (...)

Elena Conradi, 2019

Die Malerei Get Cream in Neom von Christian Rothmaler wirkt wie das überdimensionale Bildnis einer Hand. Sie schwebt, ohne einen Schatten zu werfen, im Bildzentrum vor einem hellen und ungegenständlichen Hintergrund, wie man es in der Kunstgeschichte von Darstellungen einer der geheimnisvollsten Reliquien des Christentums kennt: des Schweißtuchs der Veronika. Was das seltsame Schimmern des Inkarnats betrifft, könnte man sich beim Betrachten der Hand an die entrückte Eleganz italienischer Kirchenfresken des 14. Jahrhunderts erinnert fühlen – allerdings hat diese Hand sieben Finger. In dem Titel der Arbeit wird auf die Smart City Neom verwiesen, die als vollständig von Bioenergie betriebene Zukunftsstadt für den neuen, optimierten Menschen in der saudiarabischen Wüste entstehen soll. Ist das Bild möglicherweise der Gruß einer neuen Elite, der Segensgestus ihrer Gottheit, die Verkündung einer überlegenen kommenden Kultur?

Dass die Hand wie auf einem zu hell eingestellten Bildschirm zu schweben scheint, ist auch ein Effekt, den der leuchtende gelb-weiße Gittergrund erzeugt. Das Bild verweist damit auf ein technisches Bildverfahren, das für die objektive, genaue Erfassung, Übertragung und Produktion von Wirklichkeit steht und in der Kunstgeschichte als Instrument selbst zum Bildgegenstand wurde – zum Beispiel in Dürers Der Zeichner des liegenden Weibes, der damit sein Selbstverständnis als wissenschaftlich arbeitende Autorität zum Ausdruck brachte. (...)

Elena Conradi, 2019

Christian Rothmaler’s painting Get Cream in Neom looks like the outsized likeness of a hand. Casting no discernible shadow, the limb hovers at the center of the picture before a bright nonrepresentational background, a compositional template familiar to art historians from depictions of one of Christianity’s most mysterious relics: the Veil of Veronica. The peculiar sheen of the flesh tones may remind a beholder contemplating the hand of the otherworldly elegance of fourteenth-century frescoes in Italian churches—this hand, however, boasts seven fingers. The work’s title makes reference to the smart city Neom , a futuristic metropolis, running entirely on bioenergy and populated by a new and optimized subspecies of humanity, that is projected to rise in the desert of Saudi Arabia. Might the picture show the greeting of an emerging élite, the gesture with which its deity dispenses its blessing, the promulgation of a superior culture to come?

If the hand appears to float on a screen whose brightness setting is turned up too high, the effect is in part due to the luminous yellowish-white grid background. It is a nod to a technical imaging procedure that is emblematic of the objective and accurate recording, transmission, and production of reality. In the history of art, it has become a theme in its own right—see, for instance, Dürer’s Draftsman Drawing a Reclining Nude, which conveys the artist’s conviction that his work carried the authority of a scientific practice. Today’s users can rely on online tutorials to teach them all they need to know about 3D rendering software and the creation of animated characters and virtual spaces. Avatars can be assembled from individual perfectly shaped body parts; failed species filter back through the virtual biotopes of pluridimensional gaming universes into our realities. (...)

Elena Conradi, 2019

Die Malerei Get Cream in Neom von Christian Rothmaler wirkt wie das überdimensionale Bildnis einer Hand. Sie schwebt, ohne einen Schatten zu werfen, im Bildzentrum vor einem hellen und ungegenständlichen Hintergrund, wie man es in der Kunstgeschichte von Darstellungen einer der geheimnisvollsten Reliquien des Christentums kennt: des Schweißtuchs der Veronika. Was das seltsame Schimmern des Inkarnats betrifft, könnte man sich beim Betrachten der Hand an die entrückte Eleganz italienischer Kirchenfresken des 14. Jahrhunderts erinnert fühlen – allerdings hat diese Hand sieben Finger. In dem Titel der Arbeit wird auf die Smart City Neom verwiesen, die als vollständig von Bioenergie betriebene Zukunftsstadt für den neuen, optimierten Menschen in der saudiarabischen Wüste entstehen soll. Ist das Bild möglicherweise der Gruß einer neuen Elite, der Segensgestus ihrer Gottheit, die Verkündung einer überlegenen kommenden Kultur?

Dass die Hand wie auf einem zu hell eingestellten Bildschirm zu schweben scheint, ist auch ein Effekt, den der leuchtende gelb-weiße Gittergrund erzeugt. Das Bild verweist damit auf ein technisches Bildverfahren, das für die objektive, genaue Erfassung, Übertragung und Produktion von Wirklichkeit steht und in der Kunstgeschichte als Instrument selbst zum Bildgegenstand wurde – zum Beispiel in Dürers Der Zeichner des liegenden Weibes, der damit sein Selbstverständnis als wissenschaftlich arbeitende Autorität zum Ausdruck brachte. (...)

Elena Conradi, 2019

(...) Christian Rothmalers Jogginganzug, bemalt mit einem gelben Raster, bildet den Schlusspunkt – oder Nullpunkt. Er setzt das gemalte Raster mit einem Vorstellungsraum gleich – im Sinne Franz Erhard Walthers vielleicht sogar mit einem (zu tragenden) Handlungsraum. Das Raster als einfache räumliche Konstruktion verweist auch hier auf die Geschichte der Malerei und ist bewusst freihändig gezeichnet. Es ist der Nullpunkt eines Bildes: eine Projektionsfläche, von/ auf der Bildinhalte generiert werden (...)

Nick Oberthaler, 2021

(...) Christian Rothmaler's track suit, painted with a yellow grid, forms the final point - or zero point. He equates the painted grid with a space of imagination - in the sense of Franz Erhard Walther perhaps even with a space of action (to be used). The grid as a simple spatial construction also refers here to the history of painting and is deliberately drawn freehand. It is the zero point of a picture: a projection surface from/on which pictorial content is generated (...)

(...) Christian Rothmalers Jogginganzug, bemalt mit einem gelben Raster, bildet den Schlusspunkt – oder Nullpunkt. Er setzt das gemalte Raster mit einem Vorstellungsraum gleich – im Sinne Franz Erhard Walthers vielleicht sogar mit einem (zu tragenden) Handlungsraum. Das Raster als einfache räumliche Konstruktion verweist auch hier auf die Geschichte der Malerei und ist bewusst freihändig gezeichnet. Es ist der Nullpunkt eines Bildes: eine Projektionsfläche, von/ auf der Bildinhalte generiert werden (...)

Nick Oberthaler, 2021

(...) Christian Rothmaler's track suit, painted with a yellow grid, forms the final point - or zero point. He equates the painted grid with a space of imagination - in the sense of Franz Erhard Walther perhaps even with a space of action (to be used). The grid as a simple spatial construction also refers here to the history of painting and is deliberately drawn freehand. It is the zero point of a picture: a projection surface from/on which pictorial content is generated (...)

(...) Christian Rothmaler ist kein Copyist, eher ein postmoderner Weiterdenker, der seine Kunst mit der Geschwindigkeit unseres digitalen Zeitalters auf den Bildgrund und dem Betrachter um die Augen wirft. In seiner Katalogbroschüre Ich Atom Ich Quark Cunst seit 2020 kombiniert Rothmaler seine Bilder dann auch immer wieder – Photoshop oder so macht es in Sekundenschnelle möglich – mit diversen dort vorgestellten Lebenswelten wie Konferenzräumen, Shopping Malls oder den virtuellen Räumen von Computerspielen. So z.B. das Bild o.T.T.o. (2010-11), das in einem solchen „Cyberspace“ hängend präsentiert wird. Auf dem Bild sind die Buchstaben „C“ und „R“ – die Initialen des Künstlers ? – zu sehen, in der linken unteren Ecke erscheint so etwas wie ein blauer Türrahmen, in der rechten oberen Ecke ein ebenfalls blauer Fensterrahmen und im Zentrum sind zwei gelbe blitzartige Zeichen platziert. Selber handelt es sich bei diesem Bild um so etwas wie einen virtuellen Raum, privat, rudimentär, und so ist er so rätselhaft wie sein Titel, der irgendwo zwischen einem männlichen Vornamen und der gespiegelten Doppelung der Abkürzung „o.T.“ angesiedelt ist. Die Konfrontation dieses simpel gemalten Bildes mit dem computergenerierten Space stellt vor allem die Frage nach der Rolle, der Verortung von „Cunst 2020“. In des Künstlers Worten: „Darum gibt es Fragen auch für Zukunft, Visionen, Kosmos, Träume“. Um abschließend die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Mehr als nur ein Maler ist Christian Rothmaler, der übrigens gelegentlich auch Objekte baut.

Raimar Stange, 2014

(...) Christian Rothmaler ist kein Copyist, eher ein postmoderner Weiterdenker, der seine Kunst mit der Geschwindigkeit unseres digitalen Zeitalters auf den Bildgrund und dem Betrachter um die Augen wirft. In seiner Katalogbroschüre Ich Atom Ich Quark Cunst seit 2020 kombiniert Rothmaler seine Bilder dann auch immer wieder – Photoshop oder so macht es in Sekundenschnelle möglich – mit diversen dort vorgestellten Lebenswelten wie Konferenzräumen, Shopping Malls oder den virtuellen Räumen von Computerspielen. So z.B. das Bild o.T.T.o. (2010-11), das in einem solchen „Cyberspace“ hängend präsentiert wird. Auf dem Bild sind die Buchstaben „C“ und „R“ – die Initialen des Künstlers ? – zu sehen, in der linken unteren Ecke erscheint so etwas wie ein blauer Türrahmen, in der rechten oberen Ecke ein ebenfalls blauer Fensterrahmen und im Zentrum sind zwei gelbe blitzartige Zeichen platziert. Selber handelt es sich bei diesem Bild um so etwas wie einen virtuellen Raum, privat, rudimentär, und so ist er so rätselhaft wie sein Titel, der irgendwo zwischen einem männlichen Vornamen und der gespiegelten Doppelung der Abkürzung „o.T.“ angesiedelt ist. Die Konfrontation dieses simpel gemalten Bildes mit dem computergenerierten Space stellt vor allem die Frage nach der Rolle, der Verortung von „Cunst 2020“. In des Künstlers Worten: „Darum gibt es Fragen auch für Zukunft, Visionen, Kosmos, Träume“. Um abschließend die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Mehr als nur ein Maler ist Christian Rothmaler, der übrigens gelegentlich auch Objekte baut.

Raimar Stange, 2014

Löcher in der Zeit

„Was wusste Edgar Allan Poe von der Kosmologie? Nichts. Aber er lag richtig.“
(The New York Times, 2. November 2002)

Edgar Allan Poe veröffentlichte Heureka 1848, ein Prosagedicht über die Entstehung des Universums, das seiner Zeit insofern voraus war, als dass es nichts weniger als die Big Bang-Theorie vorwegnahm: Den Bezug von Raum und Zeit sollte erst die relativistische Physik anerkennen. Doch Poes Poesie stellt die Faktizität wissenschaftlicher Erkenntnisse grundsätzlich infrage.

Wenn Christian Rothmaler (*1982) in seiner Ausstellung Being Time Squared (+ 0 –) Raum und Zeit miteinander verschränkt, indem er die Etagen des Atelierhauses der R. und R. Schlesinger Stiftung in Zeitabschnitte unterteilt, dann geht es keineswegs darum, die eigene Produktion einer chronologischen Ordnung zu unterwerfen, sondern um die Frage, wie sich die rationale Vorstellung des Raumzeitlichen unterbrechen lässt. Mit anderen Worten: wie Bilder den Prinzipien festgelegter Bedeutungszuschreibungen zu entreißen sind. Nicht zuletzt deshalb beginnt alles in der Zukunft, im Erdgeschoss, in der Etage +, wo die Malereien eine Symbiose mit dem Haus eingehen und einen Kosmos des Werdens entwerfen: Archaische Amöbenwesen werfen dunkle Schatten auf wassergleichen Oberflächen, Korallenformen schweben schwerelos im Bildraum, unbeschriebene Quader und kryptisch bezeichnete Tafeln erscheinen aus der Tiefe der Fläche. Der Künstler beschreibt malerisch Leerformen, zeigt Materie, die im Begriff ist, sich zu gestalten und überführt damit die Definition von Zukunft in ein Paradoxon: Denn diese stellt dann nicht mehr nur eine bevorstehende Zeiteinheit innerhalb einer Abfolge dar, sondern impliziert das ursprüngliche Entstehen von Raum und Zeit.

Definiert, ja kategorisiert werden die Bildelemente der Malereien Rothmalers in der Ebene 0, der das zeitliche Intervall der Gegenwart zugedacht wird: Durch die Einpassung der bemalten Papierbahnen in die Struktur der holzvertäfelten Wände ergibt sich ein Raster, innerhalb dessen einzelne Formen vor grünem Hintergrund variiert werden und fragmentierte Körperelemente von konkreter Farbigkeit dekliniert werden, als gelte es, natürlich chaotische Prozesse einer Systematik zu unterwerfen. Eine Leinwand mit dem Ausspruch „DEINE/WELT/XYZIST/HÄSS/LICH“ prangt am Eingang der Etage. Dass damit eine von Kontrollmechanismen durchzogene Welt gemeint ist, zeigt sich an jener schmalen, hochformatigen Malerei, die ein an einen Apparatus angeschlossenes, ausformuliertes Amöbenwesen zeigt: Eine Kugel, deren Zentrum mit einem schwarzen Punkt markiert ist, ein ovaler Rumpf, an den anstelle von Armen, Händen, Beinen und Füßen die Korallenformen andocken, fügen sich zu einer rudimentären Figur zusammen, auf die Kreise appliziert sind, die an die Schaltflächen erinnern. Rothmalers Gegenwart entwirft ein Szenario der Beherrschung, in dem es um nichts weniger zu gehen scheint, als den Zufall zu kontrollieren.

Komplementär zur Etage + verhält sich die dritte Ebene des Hauses: Der Künstler ergänzt hier seine malerische Auseinandersetzung um zeichnerische und plastische Studien. Es wird deutlich, dass die immer wieder auftauchende und an Henri Matisse erinnernde Korallenform der eingehenden Auseinandersetzung mit der Darstellung und Bedeutung von Händen entspringt. Die fünffingrige Hand, die als Symbol der fünf Sinne gilt, abstrahiert und modifiziert Rothmaler, fügt ihr Finger hinzu, nicht zuletzt um eine weitere Ordnung infrage zu stellen: die des dezimalen Zahlensystems, das von der Anzahl der zehn Finger ausgeht. Die modellierten siebenfingrigen Hände werden in der Etage – als Artefakte menschlichen Schaffens präsentiert: Sie sind Relikte einer zukünftigen Vergangenheit.

In einem kleinen Raum in der obersten Ecke des Gebäudes wird mit der Zeitstruktur gebrochen: Die Bilder sind keiner Systematik mehr untergeordnet, unterlaufen die serielle Anordnung und scheinen sich auf den Raum auszudehnen, indem sie schwarze Schatten an die Wand werfen. Ist am Ende alles Fiktion? Gewiss – und zwar eine, die die Absurdität vermeintlicher Gewissheiten erst sichtbar werden lässt. Rothmaler entwirft ein imaginäres Universum, um Löcher in die Zeit zu schneiden, die Ursprünge von Geschichte zu befragen und die Vorstellung vom Bild als Zeugnis dieser zu unterlaufen. Zugleich entbehrt sein Kosmos der Realität nicht, sondern gleicht einem Realometer, der „durch die aufgezeichnete Zeit rollt und dabei ein sich stetig änderndes Wirkliches dichtet“ (Mark von Schlegell).

Nadine Droste, 2017

Holes in time

"What Did Poe Know About Cosmology? Nothing. But He Was Right."

(The New York Times, November 2nd, 2002)

Edgar Allan Poe published Eureka in 1848, a prose poem about the creation of the universe that was ahead of its time in that it anticipated nothing less than the Big Bang theory: The relation of space and time was only to be acknowledged by relativistic physics. But Poe's poetry fundamentally questions the factuality of scientific knowledge.

When Christian Rothmaler (*1982) interweaves space and time in his exhibition Being Time Squared (+ 0 -) by dividing the floors of the R. and R. Schlesinger Foundation's building into time periods, it is by no means a question of subjecting his own production to a chronological order, but rather of how the rational notion of the spatiotemporal can be interrupted. In other words: how images can be torn away from the principles of fixed attributions of meaning. Not least for this reason, everything begins in the future, on the first floor, on floor +, where the paintings enter into a symbiosis with the house and create a cosmos of becoming: Archaic amoeba creatures cast dark shadows on watery surfaces, coral forms float weightlessly in the image space, blank cuboids and cryptically labeled panels appear from the depths of the surface of the paintings. The artist painterly describes empty forms, shows matter that is in the process of being formed and thus transforms the definition of the future into a paradox: for this then no longer merely represents an imminent unit of time within a sequence, but implies the original emergence of space and time.

The pictorial elements of Rothmaler's paintings are defined, indeed categorized, in level 0, which is assigned the temporal interval of the present: By fitting the painted paper panels into the structure of the wood-panelled walls, a grid is created within which forms are varied against a green background and fragmented body elements of concrete color are declined, as if it were a matter of subjecting naturally chaotic processes to a system. A canvas with the words “DEINE/WELT/XYZIST/HÄSS/LICH” (english: "YOUR/WORLD/XYZIS/UGLY) is emblazoned at the entrance to the floor. The fact that this refers to a world permeated by control mechanisms is evident in the narrow, portrait-format painting, which shows a formulated amoeba connected to an apparatus: a sphere whose center is marked with a black dot, an oval torso to which the coral shapes dock instead of arms, hands, legs and feet, join together to form a rudimentary figure to which circles reminiscent of the buttons are applied. Rothmaler's presence creates a scenario of control in which nothing less seems to be at stake than controlling chance.

The third level of the house is complementary to floor +: here, the artist supplements his painterly exploration with drawing and sculptural studies. It becomes clear that the coral shape, which appears again and again and is reminiscent of Henri Matisse, originates from the in-depth examination of the representation and meaning of hands. Rothmaler abstracts and modifies the five-fingered hand, which is considered a symbol of the five senses, adding fingers to it, not least in order to question another order: that of the decimal number system, which is based on the number of ten fingers. The modeled seven-fingered hands are presented on the floor as artifacts of human creativity: they are relics of a future past.

In a small room in the top corner of the building, the temporal structure is broken: The pictures are no longer subordinate to any system, undermine the serial arrangement and seem to extend into the room by casting black shadows on the wall. Is it all fiction in the end? Certainly - and one that makes the absurdity of supposed certainties visible in the first place. Rothmaler creates an imaginary universe in order to cut holes in time, question the origins of history and undermine the idea of the image as a testimony to it. At the same time, his cosmos is not lacking of reality, but resembles a realometer that “scrolls through recorded time and in doing so creates a constantly changing reality” (Mark von Schlegell).

Löcher in der Zeit

„Was wusste Edgar Allan Poe von der Kosmologie? Nichts. Aber er lag richtig.“
(The New York Times, 2. November 2002)

Edgar Allan Poe veröffentlichte Heureka 1848, ein Prosagedicht über die Entstehung des Universums, das seiner Zeit insofern voraus war, als dass es nichts weniger als die Big Bang-Theorie vorwegnahm: Den Bezug von Raum und Zeit sollte erst die relativistische Physik anerkennen. Doch Poes Poesie stellt die Faktizität wissenschaftlicher Erkenntnisse grundsätzlich infrage.

Wenn Christian Rothmaler (*1982) in seiner Ausstellung Being Time Squared (+ 0 –) Raum und Zeit miteinander verschränkt, indem er die Etagen des Atelierhauses der R. und R. Schlesinger Stiftung in Zeitabschnitte unterteilt, dann geht es keineswegs darum, die eigene Produktion einer chronologischen Ordnung zu unterwerfen, sondern um die Frage, wie sich die rationale Vorstellung des Raumzeitlichen unterbrechen lässt. Mit anderen Worten: wie Bilder den Prinzipien festgelegter Bedeutungszuschreibungen zu entreißen sind. Nicht zuletzt deshalb beginnt alles in der Zukunft, im Erdgeschoss, in der Etage +, wo die Malereien eine Symbiose mit dem Haus eingehen und einen Kosmos des Werdens entwerfen: Archaische Amöbenwesen werfen dunkle Schatten auf wassergleichen Oberflächen, Korallenformen schweben schwerelos im Bildraum, unbeschriebene Quader und kryptisch bezeichnete Tafeln erscheinen aus der Tiefe der Fläche. Der Künstler beschreibt malerisch Leerformen, zeigt Materie, die im Begriff ist, sich zu gestalten und überführt damit die Definition von Zukunft in ein Paradoxon: Denn diese stellt dann nicht mehr nur eine bevorstehende Zeiteinheit innerhalb einer Abfolge dar, sondern impliziert das ursprüngliche Entstehen von Raum und Zeit.

Definiert, ja kategorisiert werden die Bildelemente der Malereien Rothmalers in der Ebene 0, der das zeitliche Intervall der Gegenwart zugedacht wird: Durch die Einpassung der bemalten Papierbahnen in die Struktur der holzvertäfelten Wände ergibt sich ein Raster, innerhalb dessen einzelne Formen vor grünem Hintergrund variiert werden und fragmentierte Körperelemente von konkreter Farbigkeit dekliniert werden, als gelte es, natürlich chaotische Prozesse einer Systematik zu unterwerfen. Eine Leinwand mit dem Ausspruch „DEINE/WELT/XYZIST/HÄSS/LICH“ prangt am Eingang der Etage. Dass damit eine von Kontrollmechanismen durchzogene Welt gemeint ist, zeigt sich an jener schmalen, hochformatigen Malerei, die ein an einen Apparatus angeschlossenes, ausformuliertes Amöbenwesen zeigt: Eine Kugel, deren Zentrum mit einem schwarzen Punkt markiert ist, ein ovaler Rumpf, an den anstelle von Armen, Händen, Beinen und Füßen die Korallenformen andocken, fügen sich zu einer rudimentären Figur zusammen, auf die Kreise appliziert sind, die an die Schaltflächen erinnern. Rothmalers Gegenwart entwirft ein Szenario der Beherrschung, in dem es um nichts weniger zu gehen scheint, als den Zufall zu kontrollieren.

Komplementär zur Etage + verhält sich die dritte Ebene des Hauses: Der Künstler ergänzt hier seine malerische Auseinandersetzung um zeichnerische und plastische Studien. Es wird deutlich, dass die immer wieder auftauchende und an Henri Matisse erinnernde Korallenform der eingehenden Auseinandersetzung mit der Darstellung und Bedeutung von Händen entspringt. Die fünffingrige Hand, die als Symbol der fünf Sinne gilt, abstrahiert und modifiziert Rothmaler, fügt ihr Finger hinzu, nicht zuletzt um eine weitere Ordnung infrage zu stellen: die des dezimalen Zahlensystems, das von der Anzahl der zehn Finger ausgeht. Die modellierten siebenfingrigen Hände werden in der Etage – als Artefakte menschlichen Schaffens präsentiert: Sie sind Relikte einer zukünftigen Vergangenheit.

In einem kleinen Raum in der obersten Ecke des Gebäudes wird mit der Zeitstruktur gebrochen: Die Bilder sind keiner Systematik mehr untergeordnet, unterlaufen die serielle Anordnung und scheinen sich auf den Raum auszudehnen, indem sie schwarze Schatten an die Wand werfen. Ist am Ende alles Fiktion? Gewiss – und zwar eine, die die Absurdität vermeintlicher Gewissheiten erst sichtbar werden lässt. Rothmaler entwirft ein imaginäres Universum, um Löcher in die Zeit zu schneiden, die Ursprünge von Geschichte zu befragen und die Vorstellung vom Bild als Zeugnis dieser zu unterlaufen. Zugleich entbehrt sein Kosmos der Realität nicht, sondern gleicht einem Realometer, der „durch die aufgezeichnete Zeit rollt und dabei ein sich stetig änderndes Wirkliches dichtet“ (Mark von Schlegell).

Nadine Droste, 2017

Holes in time

"What Did Poe Know About Cosmology? Nothing. But He Was Right."

(The New York Times, November 2nd, 2002)

Edgar Allan Poe published Eureka in 1848, a prose poem about the creation of the universe that was ahead of its time in that it anticipated nothing less than the Big Bang theory: The relation of space and time was only to be acknowledged by relativistic physics. But Poe's poetry fundamentally questions the factuality of scientific knowledge.

When Christian Rothmaler (*1982) interweaves space and time in his exhibition Being Time Squared (+ 0 -) by dividing the floors of the R. and R. Schlesinger Foundation's building into time periods, it is by no means a question of subjecting his own production to a chronological order, but rather of how the rational notion of the spatiotemporal can be interrupted. In other words: how images can be torn away from the principles of fixed attributions of meaning. Not least for this reason, everything begins in the future, on the first floor, on floor +, where the paintings enter into a symbiosis with the house and create a cosmos of becoming: Archaic amoeba creatures cast dark shadows on watery surfaces, coral forms float weightlessly in the image space, blank cuboids and cryptically labeled panels appear from the depths of the surface of the paintings. The artist painterly describes empty forms, shows matter that is in the process of being formed and thus transforms the definition of the future into a paradox: for this then no longer merely represents an imminent unit of time within a sequence, but implies the original emergence of space and time.

The pictorial elements of Rothmaler's paintings are defined, indeed categorized, in level 0, which is assigned the temporal interval of the present: By fitting the painted paper panels into the structure of the wood-panelled walls, a grid is created within which forms are varied against a green background and fragmented body elements of concrete color are declined, as if it were a matter of subjecting naturally chaotic processes to a system. A canvas with the words “DEINE/WELT/XYZIST/HÄSS/LICH” (english: "YOUR/WORLD/XYZIS/UGLY) is emblazoned at the entrance to the floor. The fact that this refers to a world permeated by control mechanisms is evident in the narrow, portrait-format painting, which shows a formulated amoeba connected to an apparatus: a sphere whose center is marked with a black dot, an oval torso to which the coral shapes dock instead of arms, hands, legs and feet, join together to form a rudimentary figure to which circles reminiscent of the buttons are applied. Rothmaler's presence creates a scenario of control in which nothing less seems to be at stake than controlling chance.

The third level of the house is complementary to floor +: here, the artist supplements his painterly exploration with drawing and sculptural studies. It becomes clear that the coral shape, which appears again and again and is reminiscent of Henri Matisse, originates from the in-depth examination of the representation and meaning of hands. Rothmaler abstracts and modifies the five-fingered hand, which is considered a symbol of the five senses, adding fingers to it, not least in order to question another order: that of the decimal number system, which is based on the number of ten fingers. The modeled seven-fingered hands are presented on the floor as artifacts of human creativity: they are relics of a future past.

In a small room in the top corner of the building, the temporal structure is broken: The pictures are no longer subordinate to any system, undermine the serial arrangement and seem to extend into the room by casting black shadows on the wall. Is it all fiction in the end? Certainly - and one that makes the absurdity of supposed certainties visible in the first place. Rothmaler creates an imaginary universe in order to cut holes in time, question the origins of history and undermine the idea of the image as a testimony to it. At the same time, his cosmos is not lacking of reality, but resembles a realometer that “scrolls through recorded time and in doing so creates a constantly changing reality” (Mark von Schlegell).

With the title of his exhibition at Kirchgasse, Christian Rothmaler places his works in the con-text of a topology situated between West and East; present and future; technology and spirituality; Google’s headquarters in California and the planned city of Neom in the desert of Saudi Arabia. In this New Babylon, “the world’s most ambitious project, an entire new land, purpose-built for a new way of living” promises that human life, work, and bodies will become part of a project of endless optimization, never entirely in the present, always a bit in the future.

In an earlier, show, Being Time Squared (+ 0 -) presented in 2017 at the R. & R. Schlesinger Found – ation in Appenzellerland, Switzerland, Christian Rothmaler already exhibited a differentiated order of spatial and temporal references in his paintings. His new works explore this approach further.

Rothmaler presents his symbolically -charged motifs with a grid of yellow lines on a white back-ground. This lattice structure acts as a kind of “holodeck” before which the shapes, raw materiality and fluids of his paintings can continually undergo a transformation. The equally archaic and futuris-tic motifs always represent the medium and the materiality of the painting itself. They generate a virtual world in which the origins of history can be short-circuited, manipulated and realized with the dreams of a future.

As a central motif of the exhibition, the human hand repeatedly emerges as a symbol of the five sen-ses, the basis of communication and action. The hand in Rothmaler’s paintings however, has seven fingers. It can be understood as a relic of human creativity, a commentary on the growing superfluity of our physical potential, or as an image of future bodies that will once again create new images of their world, their history, and their selves.

Leo Lencsés, 2018

Mit dem Titel der Ausstellung bei Kirchgasse stellt Christian Rothmaler seine Bilder in den Kontext einer Topologie zwischen West und Ost, Gegenwart und Zukunft, Technologie und Spiritualität, zwischen dem Google Headquarter in Kalifornien und der Zukunftsstadt Neom in der Wüste Saudi Arabiens. In diesem Neu-Babylon, “the world’s most ambitious project, an entire new land, purpose-built for a new way of living“, verspricht das Leben, die Arbeit und die Körper der Menschen ein Projekt endloser Optimierung zu werden, nie ganz Gegenwart, immer schon Zukunft.

Bereits in seiner Ausstellung Being Time Squared (+ 0 -) 2017 in der R. & R. Schlesinger Stiftung im schweizerischen Appenzellerland hat Christian Rothmaler eine ausdifferenzierte Ordnung der Raum- und Zeitbezüge in seiner Malerei ausgestellt. Seine neuen Bilder führen diese Auseinandersetzung weiter. Rothmaler stellt seine symbolisch aufgeladenen Motive vor ein Raster aus gelben Linien auf weißem Grund. Diese Gitterstruktur fungiert als eine Art „Holodeck“ vor dem sich die Formen, rohe Materialität und die Flüssigkeiten seiner Bilder immer wieder transformieren können. Die gleichermaßen archaischen wie futuristischen Motive stellen dabei immer auch das Medium und die Materialität der Malerei selbst aus. Sie generieren eine virtuelle Welt, in der sich die Ursprünge von Geschichte mit den Träumen einer Zukunft kurzschließen, manipulieren und realisieren lassen.

Als zentrales Motiv der Ausstellung taucht immer wieder die Hand auf, Symbol der fünf Sinne, Grundlage von Kommunikation und Handlung. In Rothmalers Bildern haben die Hände sieben Finger. Man kann sie als Relikt menschlichen Schaffens betrachten, als Kommentar zu der zunehmenden Überflüssigkeit unserer physischen Potentiale, oder aber als ein Bild zukünftiger Körper, die wieder neue Bilder ihrer Welt, ihrer Geschichte und ihrer Selbst schaffen werden.

With the title of his exhibition at Kirchgasse, Christian Rothmaler places his works in the con-text of a topology situated between West and East; present and future; technology and spirituality; Google’s headquarters in California and the planned city of Neom in the desert of Saudi Arabia. In this New Babylon, “the world’s most ambitious project, an entire new land, purpose-built for a new way of living” promises that human life, work, and bodies will become part of a project of endless optimization, never entirely in the present, always a bit in the future.

In an earlier, show, Being Time Squared (+ 0 -) presented in 2017 at the R. & R. Schlesinger Found – ation in Appenzellerland, Switzerland, Christian Rothmaler already exhibited a differentiated order of spatial and temporal references in his paintings. His new works explore this approach further.

Rothmaler presents his symbolically -charged motifs with a grid of yellow lines on a white back-ground. This lattice structure acts as a kind of “holodeck” before which the shapes, raw materiality and fluids of his paintings can continually undergo a transformation. The equally archaic and futuris-tic motifs always represent the medium and the materiality of the painting itself. They generate a virtual world in which the origins of history can be short-circuited, manipulated and realized with the dreams of a future.

As a central motif of the exhibition, the human hand repeatedly emerges as a symbol of the five sen-ses, the basis of communication and action. The hand in Rothmaler’s paintings however, has seven fingers. It can be understood as a relic of human creativity, a commentary on the growing superfluity of our physical potential, or as an image of future bodies that will once again create new images of their world, their history, and their selves.

Leo Lencsés, 2018

Mit dem Titel der Ausstellung bei Kirchgasse stellt Christian Rothmaler seine Bilder in den Kontext einer Topologie zwischen West und Ost, Gegenwart und Zukunft, Technologie und Spiritualität, zwischen dem Google Headquarter in Kalifornien und der Zukunftsstadt Neom in der Wüste Saudi Arabiens. In diesem Neu-Babylon, “the world’s most ambitious project, an entire new land, purpose-built for a new way of living“, verspricht das Leben, die Arbeit und die Körper der Menschen ein Projekt endloser Optimierung zu werden, nie ganz Gegenwart, immer schon Zukunft.

Bereits in seiner Ausstellung Being Time Squared (+ 0 -) 2017 in der R. & R. Schlesinger Stiftung im schweizerischen Appenzellerland hat Christian Rothmaler eine ausdifferenzierte Ordnung der Raum- und Zeitbezüge in seiner Malerei ausgestellt. Seine neuen Bilder führen diese Auseinandersetzung weiter. Rothmaler stellt seine symbolisch aufgeladenen Motive vor ein Raster aus gelben Linien auf weißem Grund. Diese Gitterstruktur fungiert als eine Art „Holodeck“ vor dem sich die Formen, rohe Materialität und die Flüssigkeiten seiner Bilder immer wieder transformieren können. Die gleichermaßen archaischen wie futuristischen Motive stellen dabei immer auch das Medium und die Materialität der Malerei selbst aus. Sie generieren eine virtuelle Welt, in der sich die Ursprünge von Geschichte mit den Träumen einer Zukunft kurzschließen, manipulieren und realisieren lassen.

Als zentrales Motiv der Ausstellung taucht immer wieder die Hand auf, Symbol der fünf Sinne, Grundlage von Kommunikation und Handlung. In Rothmalers Bildern haben die Hände sieben Finger. Man kann sie als Relikt menschlichen Schaffens betrachten, als Kommentar zu der zunehmenden Überflüssigkeit unserer physischen Potentiale, oder aber als ein Bild zukünftiger Körper, die wieder neue Bilder ihrer Welt, ihrer Geschichte und ihrer Selbst schaffen werden.

‘High 7’ schwebt die Hand schwerelos vor gelb weissem Gittergrund. Wo Fingerlinge und fleischfarbene malerische Plastizität die beiläufig lässige Geste mit Selbstverständlichkeit an das Greiforgan der Primaten denken lässt, taucht die Frage auf: Wessen Hand möchte mit uns auf gegenseitigen Einschlag gehen? Welche Gemeinsamkeiten und Gefühle der Zustimmung gilt es mit dem Händeklatsch zu feiern?

Auf kleineren Formaten tauchen weitere Hand ähnliche Motive auf, diese jedoch weniger eindeutig in der Gestalt, teils amorph, teils kindlich naiv. Weitere Körperfragmente in Form von Augen, vereinzelte und als Gruppe, heben sich als dreidimensionale Figuren vor wässriger roter Farbe ab und erinnern an Überwachungsapparate. Liest man das wiederkehrende Motiv des gelben Gittergrundes als Holodeck, dass sich flächendeckend auf Leinwand und Skulpturen (Architekturen?) gelegt hat, so könnten sich die in der Ausstellung gezeigten Malereien und Objekte als Ausblühungen von Realitäten und Virtualitäten verstehen, als Momentaufnahmen von Flüssigkeits- und Festigungszuständen in einem frankensteinischen Labor.

Münzen, die auf mauerartigen Skulpturen liegen und auf ein universal austauschbares Wertesystem verweisen haben in der malerischen Umsetzung eine Ähnlichkeit mit Planeten. Die raumhoch gemalte Schlingbohne erinnert an das frühherbstliche Landidyll in und um Steckborn, wo die Galerie Kirchgasse liegt. Hier wird sie gespiegelt von einer Doppelhelix auf giftgrünem Malgrund. Als prominente Struktur der in allen Lebewesen vorkommenden Desoxyribonukleinsäure (DNA) verweist sie auf die Potentiale von Sein.

Der Titel der Ausstellung: Mountain View on Neom Om 宇宙 lokalisiert einen fiktiven Ort irgendwo zwischen Ost und West, fernöstlicher Spiritualität und Universum, zwischen dem Google Headquarter in Kalifornien und dem neusten, ambitioniertesten Städtebauprojekt der Welt. In der Saudiarabischen Wüste soll Neom entstehen, eine von Bioenergie angetriebene Zukunftsstadt für den neuen, optimierten Menschen. ‘A startup in the size of a country’ mit antiken Wurzeln und utopischen Versprechungen. Im Imperativ der ‘No Time To Lose’ Plastiktüte gedeiht im ersten Ausstellungsraum ein Bambus unter irdischen Bedingungen. Dem Beschleunigung - und Optimierungswahn begegnet man immer wieder mit dem menschlichen Massstab, hin und hergerissen zwischen bodenständiger Skepsis und
gegenwärtigen Zukunftsfantasien.

Jiajia Zhang, 2018

‘High 7’, the hand hovers weightlessly in front of a yellow grid on white background. Where fingers and flesh-toned painterly plasticity lend the casual gesture an effortless naturalness, evoking the grasping organ of primates, a question arises: Whose hand is reaching out to meet ours in mutual impact? What shared moments and feelings of agreement are to be celebrated in this handshake?

Other hand-like motifs appear in smaller formats, less clearly defined in shape, sometimes amorphous, sometimes childishly naïve.. Other body fragments, in the form of eyes—isolated and in groups— stand out as three-dimensional elements in front of a watery red color, reminiscent of surveillance apparatus. If one interprets the recurring motif of the yellow grid background as a holodeck that has covered the canvas and sculptures (architectures?), then the paintings and objects in the exhibition could be understood as efflorescences of realities and virtualities, as snapshots of states of fluidity and solidification in a Frankensteinian laboratory.

Coins, placed on wall-like sculptures and referring to a universally interchangeable value system, bear a resemblance to planets in their painterly execution. The towering, painted climbing bean evokes the early autumn rural idyll in and around Steckborn, where Galerie Kirchgasse is located. It is mirrored by a double helix on a toxic green background, the iconic structure of DNA present in all living beings, pointing toward the potentials of existence.

The exhibition title, Mountain View on Neom Om 宇宙, situates a fictional place somewhere between East and West, between Eastern spirituality and the universe, between Google's headquarters in California and the world’s most ambitious urban development project. Neom, a futuristic city for the new, optimized human, powered by bioenergy, is set to rise in the Saudi Arabian desert, "A startup the size of a country," with ancient roots and utopian promises.
In the imperative "No Time To Lose"—printed on a plastic bag—a bamboo plant thrives under earthly conditions in the exhibition space. The mania for acceleration and optimization is continuously met with the human scale, torn between grounded skepticism and contemporary visions of the future.

‘High 7’ schwebt die Hand schwerelos vor gelb weissem Gittergrund. Wo Fingerlinge und fleischfarbene malerische Plastizität die beiläufig lässige Geste mit Selbstverständlichkeit an das Greiforgan der Primaten denken lässt, taucht die Frage auf: Wessen Hand möchte mit uns auf gegenseitigen Einschlag gehen? Welche Gemeinsamkeiten und Gefühle der Zustimmung gilt es mit dem Händeklatsch zu feiern?

Auf kleineren Formaten tauchen weitere Hand ähnliche Motive auf, diese jedoch weniger eindeutig in der Gestalt, teils amorph, teils kindlich naiv. Weitere Körperfragmente in Form von Augen, vereinzelte und als Gruppe, heben sich als dreidimensionale Figuren vor wässriger roter Farbe ab und erinnern an Überwachungsapparate. Liest man das wiederkehrende Motiv des gelben Gittergrundes als Holodeck, dass sich flächendeckend auf Leinwand und Skulpturen (Architekturen?) gelegt hat, so könnten sich die in der Ausstellung gezeigten Malereien und Objekte als Ausblühungen von Realitäten und Virtualitäten verstehen, als Momentaufnahmen von Flüssigkeits- und Festigungszuständen in einem frankensteinischen Labor.

Münzen, die auf mauerartigen Skulpturen liegen und auf ein universal austauschbares Wertesystem verweisen haben in der malerischen Umsetzung eine Ähnlichkeit mit Planeten. Die raumhoch gemalte Schlingbohne erinnert an das frühherbstliche Landidyll in und um Steckborn, wo die Galerie Kirchgasse liegt. Hier wird sie gespiegelt von einer Doppelhelix auf giftgrünem Malgrund. Als prominente Struktur der in allen Lebewesen vorkommenden Desoxyribonukleinsäure (DNA) verweist sie auf die Potentiale von Sein.

Der Titel der Ausstellung: Mountain View on Neom Om 宇宙 lokalisiert einen fiktiven Ort irgendwo zwischen Ost und West, fernöstlicher Spiritualität und Universum, zwischen dem Google Headquarter in Kalifornien und dem neusten, ambitioniertesten Städtebauprojekt der Welt. In der Saudiarabischen Wüste soll Neom entstehen, eine von Bioenergie angetriebene Zukunftsstadt für den neuen, optimierten Menschen. ‘A startup in the size of a country’ mit antiken Wurzeln und utopischen Versprechungen. Im Imperativ der ‘No Time To Lose’ Plastiktüte gedeiht im ersten Ausstellungsraum ein Bambus unter irdischen Bedingungen. Dem Beschleunigung - und Optimierungswahn begegnet man immer wieder mit dem menschlichen Massstab, hin und hergerissen zwischen bodenständiger Skepsis und
gegenwärtigen Zukunftsfantasien.

Jiajia Zhang, 2018

‘High 7’, the hand hovers weightlessly in front of a yellow grid on white background. Where fingers and flesh-toned painterly plasticity lend the casual gesture an effortless naturalness, evoking the grasping organ of primates, a question arises: Whose hand is reaching out to meet ours in mutual impact? What shared moments and feelings of agreement are to be celebrated in this handshake?

Other hand-like motifs appear in smaller formats, less clearly defined in shape, sometimes amorphous, sometimes childishly naïve.. Other body fragments, in the form of eyes—isolated and in groups— stand out as three-dimensional elements in front of a watery red color, reminiscent of surveillance apparatus. If one interprets the recurring motif of the yellow grid background as a holodeck that has covered the canvas and sculptures (architectures?), then the paintings and objects in the exhibition could be understood as efflorescences of realities and virtualities, as snapshots of states of fluidity and solidification in a Frankensteinian laboratory.

Coins, placed on wall-like sculptures and referring to a universally interchangeable value system, bear a resemblance to planets in their painterly execution. The towering, painted climbing bean evokes the early autumn rural idyll in and around Steckborn, where Galerie Kirchgasse is located. It is mirrored by a double helix on a toxic green background, the iconic structure of DNA present in all living beings, pointing toward the potentials of existence.

The exhibition title, Mountain View on Neom Om 宇宙, situates a fictional place somewhere between East and West, between Eastern spirituality and the universe, between Google's headquarters in California and the world’s most ambitious urban development project. Neom, a futuristic city for the new, optimized human, powered by bioenergy, is set to rise in the Saudi Arabian desert, "A startup the size of a country," with ancient roots and utopian promises.
In the imperative "No Time To Lose"—printed on a plastic bag—a bamboo plant thrives under earthly conditions in the exhibition space. The mania for acceleration and optimization is continuously met with the human scale, torn between grounded skepticism and contemporary visions of the future.

Worldbuilding

Die Zeiten, in denen man als Repertoiremaler verunglimpft werden konnte, gehören schon länger der Vergangenheit an. Die zeitgenössische Malerei hingegen wird zu einer nicht geringen Anzahl von RepertoiremalerInnen vorangetrieben, möchte ich meinen, deren Prozentsatz im interessanteren Segment sogar noch höher zu sein scheint. Eine kladestin festgelegte Grammatik aus Sujets, Stilen, Aufbauten und/oder Farben, die man variieren und nach Sachlage verdichten oder ausweiten kann, scheint zurzeit attraktiver (oder: besser in die Zeit zu passen) als die Individuallösung für das Einzelbild (welche die RepertoiremalerInnen natürlich innerhalb ihres Ansatzes, den Konzept zu nennen zu viele neue Türen öffnen würde, natürlich trotzdem für sich beanspruchen). Vielleicht [zeitdiagnostisch] aus der Gegenwartserfahrung heraus, dass Bilder omnipräsent und grundsätzlich als Teil von permanent expandierenden kommunikativen Zusammenhängen erfahren werden. Oder [kunsthistorisch] weil man seit Magritte jederzeit das Repertoire mittels eines „Surréalismus en plein soleil“ explodieren lassen kann, sofern gewünscht. Außerdem noch als Antwort auf einen projektzentrierten Neo-Picabiasmus, der sich am ehesten mit dem Namen Merlin Carpenter verbindet und Malerei als Mittel zum Zweck, als Wirt für metabetriebliche Diskursschlaufen nutzt, während mit der Begrenzung auf ein Repertoire eine Rückverlegung auf die Malerei selbst einhergeht. Sehr wahrscheinlich auch beides plus weitere Faktoren, die ich vielleicht nicht mit der Malerei in Zusammenhang bringe. In jedem Falle tut man Christian Rothmaler, um diese Ausführungen an einen Gegenstand zu binden, sicherlich nicht Unrecht, wenn man ihn einen Repertoiremaler nennt.

Begründen lässt sich eine solche Einordnung recht gut, und zwar vorrangig über das begrenzte Motivinventar, welches neu kompiliert und variiert durch seine Bilder streift: Vielfingrige Hände, Planeten, Grids, Augen. Wie sich diese Arbeitsweise kommuniziert, und auch welche Bandbreite sie abzubilden imstande ist, kann man kann gut festmachen an drei so unterschiedlichen Bildern wie „Malfunction“, 2020-22, „The Offering“, 2019-20 und „Liquidity (2/22/22)“, 2022. Die planetare Anmutung des abstrakten „Liquidity (2/22/22)“ findet sich gleich doppelt in „The Offering“, einmal negativ in fünf tondoförmige Aussparung sowie als Planeten selbst, die von siebenfingrigen Händen gehalten werden. Dieses Motiv findet sich freigestellt vor dem für Rothmaler typischen Grid in beißendem Zitronengelb ebenfalls in „Malfunction“ – welches wiederum eine Variation oder Mutation von „Uncoordinated Conspiracy“, 2020-21 und „Hi 7 in Neom – cool CRSPR greets the Line“, 2022 ist. Diese Kette ließe sich noch länger weiterziehen, bis ein dichtes Netz aus Querverweisen zwischen allen Rothmalerbildern etabliert wäre, was aber gar nicht nötig ist, da das Prinzip rauskommt. Natürlich ist man versucht, die Einzelzeichen dieser Semantik zu knacken, aber man sollte doch anerkennen, dass davor noch eine syntaktische Ebene geschaltet ist, durch welche die Bilder als Schwarm funktionieren, in dem sie sich permanent wechselseitig kommentieren, verfußnoten und unterlaufen. Jedes Rothmalerbild geriert sich immer als Teil eines größeren Zusammenhangs, was nicht heißen soll, dass die Bilder nicht für sich stehen können – das können sie in jedem Fall, die Summe öffnet im einzelnen Bild einfach noch zusätzliche Ebenen.

Wenn nun nachvollziehbar ist, inwiefern Rothmalers Einordnung als Repertoiremaler zu verstehen ist, gerät die deutlich interessantere Frage nach dem Warum in den Blick. Warum arbeitet jemand aus dem und mit dem Repertoire? Und was bedeutet es eigentlich produktionsästhetisch, auf diese Weise zu arbeiten? Schaut man hier genauer drauf, wird schnell deutlich, dass die Repertoiremalerei alles andere als eine Abwertung des Einzelbildes mit sich bringt. Die Wiederholung von Motiven und Bildaufbauten führt zu einer semantischen Verdichtung, bedeutet aber gleichzeitig auch eine Reduktion von Nebengeräuschen. Will sagen, liegt bei einem Bild eine Motivwiederholung vor, steht BetrachterInnen die Option einer Ersterschließung über das Motiv nicht mehr offen. Demnach ist alles Gemalte stärker unter der Prämisse zu betrachten, dass es einen Anlass zu malen liefert und/oder auf eine bestimmte Art zu malen. Ich möchte nicht ausschließen, dass der Rückgriff auf’s Repertoire in Einzelfällen auch auf Bequemlichkeit zurückzuführen ist, generell unterstreicht er aber vor allem, dass es um Malerei geht, um jedes einzelne Bild: Immer wieder auf dieselbe Stelle hauen, das Gleiche noch einmal etwas anders versuchen, diese eine Aufgabe, mit der man niemals fertig wird. Und das eben ist der Unterschied zum Malereiverständnis von jemandem wie Carpenter, aus dessen „Room Based – The Paintings“ ein Bild geklaut wurde, weswegen die Ausstellung ein paar Tage geschlossen bleiben musste, bis er das Bild neu gemalt hatte. Diese Gegenposition soll hier gar nicht überstrapaziert werden, aber sie hilft ungemein bei der Differenzierung zweier Auffassungen von Malerei in der Definition von Wiederholung, die analog zur Unterscheidung von dasselbe (Carpenter) und das gleiche (Rothmaler) funktioniert. Letztere erkennt die Eigendynamiken, Singularitäten und Zufälligkeiten des Malprozesses an, welche erstere schlicht leugnet oder trickster-like zu leugnen vorgibt.

Doch kommen wir noch einmal zurück zu der Feststellung, dass durch Motivwiederholungen eine Verschiebung auf die materiellen Aspekte der Malerei passiert. Das ist grundsätzlich richtig, dennoch erfolgt dieser Hinweis im Falle Rothmalers nicht durch die Wiederholung allein, sondern ist seinem Repertoire gewissermaßen inhärent. Nehmen wir beispielhaft noch einmal „Hi 7 in Neom – cool CRSPR greets the Line“ in den Blick, eine siebenfingrige, sehr plastisch und dennoch Nahe an einer Digi-Ästhetik gemalte Hand, die auf grellgelbem Grid vor weißem Grund steht. Ein reduziertes Bild, und trotzdem typisch für das Rothmaler’sche Bildprogramm. Malerisch laufen verschiedene Spuren nebeneinander, die handwerklich saubere Ebenenschichtung der Handdarstellung einerseits, die freihändig gezogenen Gitterlinien andererseits. Über die Symbolebene müssen wir, denke ich, nicht viele Worte verlieren, wobei es natürlich auffällig ist, dass so vermeintlich leicht dekodierbare Symbole bemüht werden. Was einmal mehr den Verdacht nährt, dass es vorrangig um etwas anderes geht. Die ostentative Ungenauigkeit der anatomischen Darstellung und das grelle Grid zeitigen eigentlich einen identischen Effekt, der so verdoppelt zur Aufführung gebracht wird, nämlich die Thematisierung eines malerischen Kreationismus. Die motivische Anlehnung an digitale Verfahren des Bildaufbaus stellt gewissermaßen den Aufbau eben jenes Bildes „Hi 7 in Neom – cool CRSPR greets the Line“ (und der zahlreichen anderen Gridbilder) aus, allerdings beinahe in Form eines Anti-Bildes, da die Komponenten so reduziert eingesetzt werden, dass der Bildraum in seinen unendlichen Möglichkeiten – wir alle kennen den Dürer-Holzschnitt - Gegenstand des Bildes wird, aber hier eigentlich nicht zustande kommt. Der kreationistische Aspekt wird überdies verstärkt durch die ähnlich komponierten Bilder „Malfunction“ und „Unkoordinierte Verschwörung“ (2020-21), welche den Bildaufbau des Schwesternbildes aufnehmen, dabei aber an anderen Stellen abgebogen sind. Und auch über dieses Beispiel hinaus lässt sich festhalten, dass der Kreationismus, hier in einer nicht-christlichen und digital-imprägnierten Version, die man vielleicht world-building nennen könnte, durch Rothmalers gesamte Arbeit wabert. Sämtliche seiner Motive und ihre Zusammenstellungen, die Planeten und Monde, teilweise von Händen gehalten, die anatomischen Anomalien, Augen und Raster lassen sich unter diesem Term zusammenbringen. Und zwar ohne den starken Fokus auf den aktiv gelebten malerischen Aspekt innerhalb dieses Werkes auszuklammern, schließlich kann man dieses antiquierte Handwerk Malerei mit einigem Recht auch als eine sublimierte Schöpferfantasie betrachten.

Auch wenn wäre Rothmalers Arbeit so schon ausreichend komplex ist, existiert noch eine Rückseite oder Schattenseite des Werkes, die ‚Grünen Bilder’, wie man sie vielleicht nennen könnte. Dabei handelt es sich um gespiegelte Kopien seiner Malereien, wobei die Hintergründe durchgehend in einem leuchtenden Grün gehalten sind, während alles Körperliche in mattem Schwarz mit verstärkendem violettem Schimmer wiedergegeben wird. Innerhalb seines Werkes haben diese Bilder einen eigenartigen, unklaren Status irgendwo zwischen Schatten, archivarischer Reproduktion und Werkkommentar. Sie reagieren auf die angehäufte Malerei, synthetisieren sie vielleicht auch ein Stück weit, was einmal mehr ihre paratextuelle Natur unterstreicht. Dennoch lässt Rothmaler sie als reguläre Arbeiten gelten und integriert sie in seine Ausstellungspraxis. Und es wird auch deutlich warum, denn diese Bilder leisten insbesondere im Zusammenspiel mit den markanten Raster-Bildern eine Erschließung des Bildraums, da das Raster im einfarbigen Hintergrund der gespiegelten Versionen aufgeht. Das provoziert sofort wieder Fragen nach der Rangfolge der Bilder, nach fertig bzw. unfertig, sofern man es banal diskutieren möchte. Allgemeiner gesprochen wird dadurch vor allem das Konzept eines malerischen world-building noch stärker profiliert, indem die Entwurfsebenen des Rasters eine Form der Umsetzung erfährt (die man – Stichwort chroma keying – auch sofort wieder infrage stellen könnte), wie auch in den ‚klassischeren’ Bildern, z.B. „The Offering“, in denen die Generatorenfläche hinter dem Bildraum verschwindet. Auf der malerischen Ebene hingegen findet eine zusätzliche Auseinandersetzung mit der gerade fertig gestellten Malerei statt, eine Selbstexegese im gleichen Medium sozusagen, welche vor allem dem Zweck zu dienen scheint, die Intensität der malerischen Beschäftigung so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Bei gleichzeitiger maximaler Ausbeutung des Repertoires, möchte man hinzufügen.

Moritz Scheper, 2022

Worldbuilding

Die Zeiten, in denen man als Repertoiremaler verunglimpft werden konnte, gehören schon länger der Vergangenheit an. Die zeitgenössische Malerei hingegen wird zu einer nicht geringen Anzahl von RepertoiremalerInnen vorangetrieben, möchte ich meinen, deren Prozentsatz im interessanteren Segment sogar noch höher zu sein scheint. Eine kladestin festgelegte Grammatik aus Sujets, Stilen, Aufbauten und/oder Farben, die man variieren und nach Sachlage verdichten oder ausweiten kann, scheint zurzeit attraktiver (oder: besser in die Zeit zu passen) als die Individuallösung für das Einzelbild (welche die RepertoiremalerInnen natürlich innerhalb ihres Ansatzes, den Konzept zu nennen zu viele neue Türen öffnen würde, natürlich trotzdem für sich beanspruchen). Vielleicht [zeitdiagnostisch] aus der Gegenwartserfahrung heraus, dass Bilder omnipräsent und grundsätzlich als Teil von permanent expandierenden kommunikativen Zusammenhängen erfahren werden. Oder [kunsthistorisch] weil man seit Magritte jederzeit das Repertoire mittels eines „Surréalismus en plein soleil“ explodieren lassen kann, sofern gewünscht. Außerdem noch als Antwort auf einen projektzentrierten Neo-Picabiasmus, der sich am ehesten mit dem Namen Merlin Carpenter verbindet und Malerei als Mittel zum Zweck, als Wirt für metabetriebliche Diskursschlaufen nutzt, während mit der Begrenzung auf ein Repertoire eine Rückverlegung auf die Malerei selbst einhergeht. Sehr wahrscheinlich auch beides plus weitere Faktoren, die ich vielleicht nicht mit der Malerei in Zusammenhang bringe. In jedem Falle tut man Christian Rothmaler, um diese Ausführungen an einen Gegenstand zu binden, sicherlich nicht Unrecht, wenn man ihn einen Repertoiremaler nennt.

Begründen lässt sich eine solche Einordnung recht gut, und zwar vorrangig über das begrenzte Motivinventar, welches neu kompiliert und variiert durch seine Bilder streift: Vielfingrige Hände, Planeten, Grids, Augen. Wie sich diese Arbeitsweise kommuniziert, und auch welche Bandbreite sie abzubilden imstande ist, kann man kann gut festmachen an drei so unterschiedlichen Bildern wie „Malfunction“, 2020-22, „The Offering“, 2019-20 und „Liquidity (2/22/22)“, 2022. Die planetare Anmutung des abstrakten „Liquidity (2/22/22)“ findet sich gleich doppelt in „The Offering“, einmal negativ in fünf tondoförmige Aussparung sowie als Planeten selbst, die von siebenfingrigen Händen gehalten werden. Dieses Motiv findet sich freigestellt vor dem für Rothmaler typischen Grid in beißendem Zitronengelb ebenfalls in „Malfunction“ – welches wiederum eine Variation oder Mutation von „Uncoordinated Conspiracy“, 2020-21 und „Hi 7 in Neom – cool CRSPR greets the Line“, 2022 ist. Diese Kette ließe sich noch länger weiterziehen, bis ein dichtes Netz aus Querverweisen zwischen allen Rothmalerbildern etabliert wäre, was aber gar nicht nötig ist, da das Prinzip rauskommt. Natürlich ist man versucht, die Einzelzeichen dieser Semantik zu knacken, aber man sollte doch anerkennen, dass davor noch eine syntaktische Ebene geschaltet ist, durch welche die Bilder als Schwarm funktionieren, in dem sie sich permanent wechselseitig kommentieren, verfußnoten und unterlaufen. Jedes Rothmalerbild geriert sich immer als Teil eines größeren Zusammenhangs, was nicht heißen soll, dass die Bilder nicht für sich stehen können – das können sie in jedem Fall, die Summe öffnet im einzelnen Bild einfach noch zusätzliche Ebenen.

Wenn nun nachvollziehbar ist, inwiefern Rothmalers Einordnung als Repertoiremaler zu verstehen ist, gerät die deutlich interessantere Frage nach dem Warum in den Blick. Warum arbeitet jemand aus dem und mit dem Repertoire? Und was bedeutet es eigentlich produktionsästhetisch, auf diese Weise zu arbeiten? Schaut man hier genauer drauf, wird schnell deutlich, dass die Repertoiremalerei alles andere als eine Abwertung des Einzelbildes mit sich bringt. Die Wiederholung von Motiven und Bildaufbauten führt zu einer semantischen Verdichtung, bedeutet aber gleichzeitig auch eine Reduktion von Nebengeräuschen. Will sagen, liegt bei einem Bild eine Motivwiederholung vor, steht BetrachterInnen die Option einer Ersterschließung über das Motiv nicht mehr offen. Demnach ist alles Gemalte stärker unter der Prämisse zu betrachten, dass es einen Anlass zu malen liefert und/oder auf eine bestimmte Art zu malen. Ich möchte nicht ausschließen, dass der Rückgriff auf’s Repertoire in Einzelfällen auch auf Bequemlichkeit zurückzuführen ist, generell unterstreicht er aber vor allem, dass es um Malerei geht, um jedes einzelne Bild: Immer wieder auf dieselbe Stelle hauen, das Gleiche noch einmal etwas anders versuchen, diese eine Aufgabe, mit der man niemals fertig wird. Und das eben ist der Unterschied zum Malereiverständnis von jemandem wie Carpenter, aus dessen „Room Based – The Paintings“ ein Bild geklaut wurde, weswegen die Ausstellung ein paar Tage geschlossen bleiben musste, bis er das Bild neu gemalt hatte. Diese Gegenposition soll hier gar nicht überstrapaziert werden, aber sie hilft ungemein bei der Differenzierung zweier Auffassungen von Malerei in der Definition von Wiederholung, die analog zur Unterscheidung von dasselbe (Carpenter) und das gleiche (Rothmaler) funktioniert. Letztere erkennt die Eigendynamiken, Singularitäten und Zufälligkeiten des Malprozesses an, welche erstere schlicht leugnet oder trickster-like zu leugnen vorgibt.

Doch kommen wir noch einmal zurück zu der Feststellung, dass durch Motivwiederholungen eine Verschiebung auf die materiellen Aspekte der Malerei passiert. Das ist grundsätzlich richtig, dennoch erfolgt dieser Hinweis im Falle Rothmalers nicht durch die Wiederholung allein, sondern ist seinem Repertoire gewissermaßen inhärent. Nehmen wir beispielhaft noch einmal „Hi 7 in Neom – cool CRSPR greets the Line“ in den Blick, eine siebenfingrige, sehr plastisch und dennoch Nahe an einer Digi-Ästhetik gemalte Hand, die auf grellgelbem Grid vor weißem Grund steht. Ein reduziertes Bild, und trotzdem typisch für das Rothmaler’sche Bildprogramm. Malerisch laufen verschiedene Spuren nebeneinander, die handwerklich saubere Ebenenschichtung der Handdarstellung einerseits, die freihändig gezogenen Gitterlinien andererseits. Über die Symbolebene müssen wir, denke ich, nicht viele Worte verlieren, wobei es natürlich auffällig ist, dass so vermeintlich leicht dekodierbare Symbole bemüht werden. Was einmal mehr den Verdacht nährt, dass es vorrangig um etwas anderes geht. Die ostentative Ungenauigkeit der anatomischen Darstellung und das grelle Grid zeitigen eigentlich einen identischen Effekt, der so verdoppelt zur Aufführung gebracht wird, nämlich die Thematisierung eines malerischen Kreationismus. Die motivische Anlehnung an digitale Verfahren des Bildaufbaus stellt gewissermaßen den Aufbau eben jenes Bildes „Hi 7 in Neom – cool CRSPR greets the Line“ (und der zahlreichen anderen Gridbilder) aus, allerdings beinahe in Form eines Anti-Bildes, da die Komponenten so reduziert eingesetzt werden, dass der Bildraum in seinen unendlichen Möglichkeiten – wir alle kennen den Dürer-Holzschnitt - Gegenstand des Bildes wird, aber hier eigentlich nicht zustande kommt. Der kreationistische Aspekt wird überdies verstärkt durch die ähnlich komponierten Bilder „Malfunction“ und „Unkoordinierte Verschwörung“ (2020-21), welche den Bildaufbau des Schwesternbildes aufnehmen, dabei aber an anderen Stellen abgebogen sind. Und auch über dieses Beispiel hinaus lässt sich festhalten, dass der Kreationismus, hier in einer nicht-christlichen und digital-imprägnierten Version, die man vielleicht world-building nennen könnte, durch Rothmalers gesamte Arbeit wabert. Sämtliche seiner Motive und ihre Zusammenstellungen, die Planeten und Monde, teilweise von Händen gehalten, die anatomischen Anomalien, Augen und Raster lassen sich unter diesem Term zusammenbringen. Und zwar ohne den starken Fokus auf den aktiv gelebten malerischen Aspekt innerhalb dieses Werkes auszuklammern, schließlich kann man dieses antiquierte Handwerk Malerei mit einigem Recht auch als eine sublimierte Schöpferfantasie betrachten.

Auch wenn wäre Rothmalers Arbeit so schon ausreichend komplex ist, existiert noch eine Rückseite oder Schattenseite des Werkes, die ‚Grünen Bilder’, wie man sie vielleicht nennen könnte. Dabei handelt es sich um gespiegelte Kopien seiner Malereien, wobei die Hintergründe durchgehend in einem leuchtenden Grün gehalten sind, während alles Körperliche in mattem Schwarz mit verstärkendem violettem Schimmer wiedergegeben wird. Innerhalb seines Werkes haben diese Bilder einen eigenartigen, unklaren Status irgendwo zwischen Schatten, archivarischer Reproduktion und Werkkommentar. Sie reagieren auf die angehäufte Malerei, synthetisieren sie vielleicht auch ein Stück weit, was einmal mehr ihre paratextuelle Natur unterstreicht. Dennoch lässt Rothmaler sie als reguläre Arbeiten gelten und integriert sie in seine Ausstellungspraxis. Und es wird auch deutlich warum, denn diese Bilder leisten insbesondere im Zusammenspiel mit den markanten Raster-Bildern eine Erschließung des Bildraums, da das Raster im einfarbigen Hintergrund der gespiegelten Versionen aufgeht. Das provoziert sofort wieder Fragen nach der Rangfolge der Bilder, nach fertig bzw. unfertig, sofern man es banal diskutieren möchte. Allgemeiner gesprochen wird dadurch vor allem das Konzept eines malerischen world-building noch stärker profiliert, indem die Entwurfsebenen des Rasters eine Form der Umsetzung erfährt (die man – Stichwort chroma keying – auch sofort wieder infrage stellen könnte), wie auch in den ‚klassischeren’ Bildern, z.B. „The Offering“, in denen die Generatorenfläche hinter dem Bildraum verschwindet. Auf der malerischen Ebene hingegen findet eine zusätzliche Auseinandersetzung mit der gerade fertig gestellten Malerei statt, eine Selbstexegese im gleichen Medium sozusagen, welche vor allem dem Zweck zu dienen scheint, die Intensität der malerischen Beschäftigung so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Bei gleichzeitiger maximaler Ausbeutung des Repertoires, möchte man hinzufügen.

Moritz Scheper, 2022

We only have a future as symbionts

Like most train stations, Lübeck Central Station, with its four-aisle platform hall, silver steel arches and wide wooden stairs, is a place of relative extremes. Arrivals, farewells, anonymity, tedious waiting and heated races for time change alternately. A cold wind sweeps across the platform and catches in vague memories of the summer sultriness under the glass roof. On four large doublesided billboards, located on the four platforms of the station, the artists Anton Engel and Christian Rothmaler are each showing four works. Looking north, one sees reproductions of Anton Engel's drawings enlarged to the size of the billboard; looking south, one sees Christian Rothmaler's paintings, also enlarged to the size of the billboard.

The drawings show broken glass, a cracked display, a network of fissures, a broken landscape. They may have been triggered by outside influences, weather conditions, a tiny explosive device, or a woodpecker pecking at the smooth surface. Anton Engel draws four fragile surfaces in different light. One state seems frozen in the moment of doom, the other whitnessing a lengthy process - a snail leisurely crosses the action, leaving its slimy trail behind. On the reverse sides of the posterboards, the dimensions and lines of sight lead to a bigger context. Christian Rothmaler paints a glowing sun, seven-fingered hands holding a bright sheet with the inscription THE, once towards the sun, once towards the moon and a black hole – referring to the images of a black hole in the center of the Milky Way, as it could be imaged for the first time in 2022 by means of many radio telescopes coupled worldwide.

It becomes day and it becomes night in the images with their different light situations – like on the platforms that surround them. The works are in close dialogue with each other spanned between utopia and dystopia, between destruction and new beginnings, the microcosm and the universe, between cool glass and burning stars, between states of exhaustion and energy economy.

The science theorist and feminist author Donna Haraway is concerned with the question of how life will be possible in the future on a damaged planet Earth. For this she establishes the concept of Chthuluzän, the age of continuous learning. We will not survive as individuals, but only in co-becoming with other species, as symbionts, Haraway writes. We become - with each other or not at all. The matter is serious: we are in the process of destroying the planet through overexploitation, overproduction and overpopulation. In this situation, she argues, neither technological optimism nor cynical doomsday sentiment is the appropriate attitude. Instead, we must remain restless and step out of the old patriarchal narrative, in which the lone hero defeats the enemies, and get together with the animals in closest companionship. (Donna J. Haraway: Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene, 2016).

What is hiding behind the fragmented panes, and what stands behind the all-encompassing THE, which in English defies gender classification? Is it referring to the much-coveted moon, The Moon as a speculative new habitat, or to The End, or merely to a gap of speechlessness? Could the seven fingers be the visualization of a symbiosis as Haraway understands it? What keeps the system together at its core, now and in the future? The woodpecker breaks with the slick rules of non-commitment, while the snail is tempted to patch them up in a new, more permeable form with its slime.

Lisa Klosterkötter, 2023

Nur als Symbionten haben wir eine Zukunft

Wie die meisten Bahnhöfe ist der Lübecker Hauptbahnhof mit seiner vierschiffigen Bahnsteighalle, silbernen Stahlbögen und breiten Holztreppen ein Ort relativer Extreme. Ankunft, Abschied, Anonymität, ermüdendes Warten und hitzige Wettrennen um die Zeit wechseln sich ab, ein kalter Wind fegt über die Plattform und fängt sich in vagen Erinnerungen an die sommerlich stehende Schwüle unter dem Glasdach. Industrielle Nostalgie trifft auf die Corporate Identity der Deutsche Bahn. Auf vier großen Plakatwänden, die beidseitig bespielt sind und sich an vier Bahnsteigen gestaffelt gegenüberstehen, zeigen die Künstler Anton Engel und Christian Rothmaler jeweils vier Arbeiten. Fällt der Blick Richtung Norden, sieht man die auf das Format der Werbetafel vergrößerten Repros der Zeichnungen von Anton Engel, geht der Blick Richtung Süden erscheinen dort Christian Rothmalers Malereien, die ebenfalls auf die Plakatflächen vergrößert wurden. 

Die Zeichnungen zeigen zerbrochene Scheiben, ein gesprungenes Display, ein Netzwerk aus Rissen oder eine aufgebrochene Landschaft. Womöglich sind sie durch Einflüsse von Außen ausgelöst worden, durch Wetterbedingungen, durch einen winzigen Sprengkörper oder einen auf die glatte Oberfläche einpickenden Specht. Anton Engel zeichnet vier brüchige Oberflächen in unterschiedlichem Licht, ein Zustand scheint im Begriff des Untergangs eingefroren, der andere einem langwierigen Prozess ausgeliefert – eine Schnecke überquert gemächlich das Geschehen und hinterlässt ihre schleimige Spur. Auf den Rückseiten kehren sich die Dimensionen und Blickführungen ins Große und Ganze. Christian Rothmaler malt eine glühende Sonne, siebenfingrige Hände, die ein weißes Blatt mit der Aufschrift THE einmal dem Mond, einmal der Sonne entgegenhalten und ein Schwarzes Loch – bezugnehmend auf die Abbildungen eines Schwarzen Lochs im Zentrum der Milchstraße, wie es erstmals 2022 anhand vieler weltweit gekoppelter Radioteleskope abgebildet werden konnte.

Es wird Tag und es wird Nacht auf den Bildern in ihren unterschiedlichen Lichtsituationen, und auf dem Bahnsteig, der sie umgibt. Die Arbeiten stehen im engen Dialog miteinander und spannen sich auf zwischen Utopie und Dystopie, zwische Zerstörung und Neuanfang, Mikrokosmos und dem Universum, zwischen kühlem Glas und brennenden Sternen, zwischen Erschöpfungszuständen und Energiewirtschaft. 

Die Wissenschaftstheoretikerin und feministische Autorin Donna Haraway beschäftigt sich mit der Frage, wie ein Leben in Zukunft auf der beschädigten Erde möglich sein wird. Hierfür etabliert sie den Begriff des Chthuluzän, das Zeitalter fortdauernden Lernens. Wir werden nicht als Individuen überleben, sondern nur im Mit-Werden mit anderen Arten, als Symbionten, schreibt Haraway. Wir werden miteinander oder wir werden gar nicht. Denn der Anlass ist ernst: Wir sind dabei, den Planeten durch Raubbau, Überproduktion und Überbevölkerung nachhaltig zu zerstören. In dieser Situation sei weder Technikoptimismus noch zynische Endzeitstimmung die angemessene Haltung – stattdessen müssten wir unruhig bleiben und aus der alten, patriarchalen Erzählung, in dem der einzelne Held raumgreifend die Feinde besiegt, aussteigen und mit den Tieren zusammenrücken in engster Gemeinschaft. (Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Original: 2016).

Was befindet sich hinter den zersplitterten Scheiben, und was hinter dem umfassenden THE, das sich in der englischen Sprache einer geschlechtsspezifischen Zuordnung entzieht und sich auf den begehrten Mond, The Moon als spekulativ neuer Lebensraum oder auf The End beziehen könnte, oder lediglich auf eine Lücke der Sprachlosigkeit? Sind die sieben Finger vielleicht die Verbildlichung einer Symbiose, wie Haraway sie versteht? Was hält das System jetzt und in Zukunft im Kern zusammen? Der Specht bricht mit dem glatten Regelwerk von Unverbindlichkeiten, die Schnecke hingegen ist versucht, jenes in einer neuen durchlässigeren Form mit ihrem Schleim zusammenzuflicken.

We only have a future as symbionts

Like most train stations, Lübeck Central Station, with its four-aisle platform hall, silver steel arches and wide wooden stairs, is a place of relative extremes. Arrivals, farewells, anonymity, tedious waiting and heated races for time change alternately. A cold wind sweeps across the platform and catches in vague memories of the summer sultriness under the glass roof. On four large doublesided billboards, located on the four platforms of the station, the artists Anton Engel and Christian Rothmaler are each showing four works. Looking north, one sees reproductions of Anton Engel's drawings enlarged to the size of the billboard; looking south, one sees Christian Rothmaler's paintings, also enlarged to the size of the billboard.

The drawings show broken glass, a cracked display, a network of fissures, a broken landscape. They may have been triggered by outside influences, weather conditions, a tiny explosive device, or a woodpecker pecking at the smooth surface. Anton Engel draws four fragile surfaces in different light. One state seems frozen in the moment of doom, the other whitnessing a lengthy process - a snail leisurely crosses the action, leaving its slimy trail behind. On the reverse sides of the posterboards, the dimensions and lines of sight lead to a bigger context. Christian Rothmaler paints a glowing sun, seven-fingered hands holding a bright sheet with the inscription THE, once towards the sun, once towards the moon and a black hole – referring to the images of a black hole in the center of the Milky Way, as it could be imaged for the first time in 2022 by means of many radio telescopes coupled worldwide.

It becomes day and it becomes night in the images with their different light situations – like on the platforms that surround them. The works are in close dialogue with each other spanned between utopia and dystopia, between destruction and new beginnings, the microcosm and the universe, between cool glass and burning stars, between states of exhaustion and energy economy.

The science theorist and feminist author Donna Haraway is concerned with the question of how life will be possible in the future on a damaged planet Earth. For this she establishes the concept of Chthuluzän, the age of continuous learning. We will not survive as individuals, but only in co-becoming with other species, as symbionts, Haraway writes. We become - with each other or not at all. The matter is serious: we are in the process of destroying the planet through overexploitation, overproduction and overpopulation. In this situation, she argues, neither technological optimism nor cynical doomsday sentiment is the appropriate attitude. Instead, we must remain restless and step out of the old patriarchal narrative, in which the lone hero defeats the enemies, and get together with the animals in closest companionship. (Donna J. Haraway: Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene, 2016).

What is hiding behind the fragmented panes, and what stands behind the all-encompassing THE, which in English defies gender classification? Is it referring to the much-coveted moon, The Moon as a speculative new habitat, or to The End, or merely to a gap of speechlessness? Could the seven fingers be the visualization of a symbiosis as Haraway understands it? What keeps the system together at its core, now and in the future? The woodpecker breaks with the slick rules of non-commitment, while the snail is tempted to patch them up in a new, more permeable form with its slime.

Lisa Klosterkötter, 2023

Nur als Symbionten haben wir eine Zukunft

Wie die meisten Bahnhöfe ist der Lübecker Hauptbahnhof mit seiner vierschiffigen Bahnsteighalle, silbernen Stahlbögen und breiten Holztreppen ein Ort relativer Extreme. Ankunft, Abschied, Anonymität, ermüdendes Warten und hitzige Wettrennen um die Zeit wechseln sich ab, ein kalter Wind fegt über die Plattform und fängt sich in vagen Erinnerungen an die sommerlich stehende Schwüle unter dem Glasdach. Industrielle Nostalgie trifft auf die Corporate Identity der Deutsche Bahn. Auf vier großen Plakatwänden, die beidseitig bespielt sind und sich an vier Bahnsteigen gestaffelt gegenüberstehen, zeigen die Künstler Anton Engel und Christian Rothmaler jeweils vier Arbeiten. Fällt der Blick Richtung Norden, sieht man die auf das Format der Werbetafel vergrößerten Repros der Zeichnungen von Anton Engel, geht der Blick Richtung Süden erscheinen dort Christian Rothmalers Malereien, die ebenfalls auf die Plakatflächen vergrößert wurden. 

Die Zeichnungen zeigen zerbrochene Scheiben, ein gesprungenes Display, ein Netzwerk aus Rissen oder eine aufgebrochene Landschaft. Womöglich sind sie durch Einflüsse von Außen ausgelöst worden, durch Wetterbedingungen, durch einen winzigen Sprengkörper oder einen auf die glatte Oberfläche einpickenden Specht. Anton Engel zeichnet vier brüchige Oberflächen in unterschiedlichem Licht, ein Zustand scheint im Begriff des Untergangs eingefroren, der andere einem langwierigen Prozess ausgeliefert – eine Schnecke überquert gemächlich das Geschehen und hinterlässt ihre schleimige Spur. Auf den Rückseiten kehren sich die Dimensionen und Blickführungen ins Große und Ganze. Christian Rothmaler malt eine glühende Sonne, siebenfingrige Hände, die ein weißes Blatt mit der Aufschrift THE einmal dem Mond, einmal der Sonne entgegenhalten und ein Schwarzes Loch – bezugnehmend auf die Abbildungen eines Schwarzen Lochs im Zentrum der Milchstraße, wie es erstmals 2022 anhand vieler weltweit gekoppelter Radioteleskope abgebildet werden konnte.

Es wird Tag und es wird Nacht auf den Bildern in ihren unterschiedlichen Lichtsituationen, und auf dem Bahnsteig, der sie umgibt. Die Arbeiten stehen im engen Dialog miteinander und spannen sich auf zwischen Utopie und Dystopie, zwische Zerstörung und Neuanfang, Mikrokosmos und dem Universum, zwischen kühlem Glas und brennenden Sternen, zwischen Erschöpfungszuständen und Energiewirtschaft. 

Die Wissenschaftstheoretikerin und feministische Autorin Donna Haraway beschäftigt sich mit der Frage, wie ein Leben in Zukunft auf der beschädigten Erde möglich sein wird. Hierfür etabliert sie den Begriff des Chthuluzän, das Zeitalter fortdauernden Lernens. Wir werden nicht als Individuen überleben, sondern nur im Mit-Werden mit anderen Arten, als Symbionten, schreibt Haraway. Wir werden miteinander oder wir werden gar nicht. Denn der Anlass ist ernst: Wir sind dabei, den Planeten durch Raubbau, Überproduktion und Überbevölkerung nachhaltig zu zerstören. In dieser Situation sei weder Technikoptimismus noch zynische Endzeitstimmung die angemessene Haltung – stattdessen müssten wir unruhig bleiben und aus der alten, patriarchalen Erzählung, in dem der einzelne Held raumgreifend die Feinde besiegt, aussteigen und mit den Tieren zusammenrücken in engster Gemeinschaft. (Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Original: 2016).

Was befindet sich hinter den zersplitterten Scheiben, und was hinter dem umfassenden THE, das sich in der englischen Sprache einer geschlechtsspezifischen Zuordnung entzieht und sich auf den begehrten Mond, The Moon als spekulativ neuer Lebensraum oder auf The End beziehen könnte, oder lediglich auf eine Lücke der Sprachlosigkeit? Sind die sieben Finger vielleicht die Verbildlichung einer Symbiose, wie Haraway sie versteht? Was hält das System jetzt und in Zukunft im Kern zusammen? Der Specht bricht mit dem glatten Regelwerk von Unverbindlichkeiten, die Schnecke hingegen ist versucht, jenes in einer neuen durchlässigeren Form mit ihrem Schleim zusammenzuflicken.

We come across terms ending in „-ism“ almost every day in public discourse, yet many people are not quite sure what the ending of such words refers to. Something like ‚-ism‘ ‚a revolutionary artistic movement from the 19th-20th centuries‘ is probably something everyone has heard of by now. The common (Latin) word ending is familiar from the names of the innovatory and avant-garde art movements (Futurism, Dadaism, Impressionism, Expressionism, etc.), but digging deeper reveals that ‚-ism‘ is ultimately Greek: -ismos (e.g. This discussion of etymology, eg. the study of the origins of words is also important in the context of the Mineralism exhibition because it seeks to present a pseudo-movement in which the act of digging deeper in the history of things and phenomena is fundamental.

In this context, the greatest innovation of intermedia artist Judit Kis and painter Christian Rothmaler is their return to the most ancient materials and their use of them to create works in different media. In the age of artificial paint materials, we must also remind ourselves that certain pigments are directly linked to nature, as the various colored rock dust are their main coloring components. They are also the stone powders used to create the first human works of art, such as cave paintings, or the crystals used to make the symmetrical scaffolding in the cracked rock in the paleolithic, which is lately considered not as a tool in first place, but as a work of art.

If we think of one of the prehistoric paint quarries – for example, the redstone quarry not far from here on the outskirts of the village Lovas near lake Balaton – this connection seems immediately obvious. At first glance, the connections between Judit Kis and Christian Rothmaler seem to be merely thematic in the relationship between the stones depicted and the stones presented as objects. However, suppose we focus on the ancient, direct relationship between paintings and rocks, natural materials. In that case, it becomes clear that both are addressing the fundamental questions of the role of art in becoming human, of the ways to return to the sense of unity in which our fellow human beings who created the first works of art from stone dust and cracked stone existed. (...)

In his paintings, Christian Rothmaler creates symbolic, sometimes ironic scenes that, in addition to allusions to the foundations of art history, offer a wealth of connections to contemporary issues of technology and spirituality. Rothmaler also constantly questions the medium of painting itself. In his works, he creates a virtual cosmos that playfully reflects on human capabilities and limitations in the Anthropocene by creating landscapes that hover on the border between fluidity and solidity. (...)

Emese Mucsi, 2024

We come across terms ending in „-ism“ almost every day in public discourse, yet many people are not quite sure what the ending of such words refers to. Something like ‚-ism‘ ‚a revolutionary artistic movement from the 19th-20th centuries‘ is probably something everyone has heard of by now. The common (Latin) word ending is familiar from the names of the innovatory and avant-garde art movements (Futurism, Dadaism, Impressionism, Expressionism, etc.), but digging deeper reveals that ‚-ism‘ is ultimately Greek: -ismos (e.g. This discussion of etymology, eg. the study of the origins of words is also important in the context of the Mineralism exhibition because it seeks to present a pseudo-movement in which the act of digging deeper in the history of things and phenomena is fundamental.

In this context, the greatest innovation of intermedia artist Judit Kis and painter Christian Rothmaler is their return to the most ancient materials and their use of them to create works in different media. In the age of artificial paint materials, we must also remind ourselves that certain pigments are directly linked to nature, as the various colored rock dust are their main coloring components. They are also the stone powders used to create the first human works of art, such as cave paintings, or the crystals used to make the symmetrical scaffolding in the cracked rock in the paleolithic, which is lately considered not as a tool in first place, but as a work of art.

If we think of one of the prehistoric paint quarries – for example, the redstone quarry not far from here on the outskirts of the village Lovas near lake Balaton – this connection seems immediately obvious. At first glance, the connections between Judit Kis and Christian Rothmaler seem to be merely thematic in the relationship between the stones depicted and the stones presented as objects. However, suppose we focus on the ancient, direct relationship between paintings and rocks, natural materials. In that case, it becomes clear that both are addressing the fundamental questions of the role of art in becoming human, of the ways to return to the sense of unity in which our fellow human beings who created the first works of art from stone dust and cracked stone existed. (...)

In his paintings, Christian Rothmaler creates symbolic, sometimes ironic scenes that, in addition to allusions to the foundations of art history, offer a wealth of connections to contemporary issues of technology and spirituality. Rothmaler also constantly questions the medium of painting itself. In his works, he creates a virtual cosmos that playfully reflects on human capabilities and limitations in the Anthropocene by creating landscapes that hover on the border between fluidity and solidity. (...)

Emese Mucsi, 2024